Ode sieben: An die Demut

Seit einiger Zeit gehe ich mit einem immensen Glücksgefühl durchs Leben. Ich werde morgens wach und denke: „Was habe ich für ein Glück“. Ich sitze am Schreibtisch und denke: „Ich habe die schönste Arbeit der Welt“. Manchmal überfällt mich in solchen Momenten noch die Angst: Bloß nicht zu laut denken das, sonst wird das Glück sich in Luft auflösen. Bloß nicht zu früh freuen, sonst forderst du das Schicksal heraus. Aber in den letzten Wochen verändert sich das langsam. Denn ich habe etwas begriffen: Das Glück kommt nicht von außen. Ich lebe schon immer in sicheren Ländern, habe nie Hunger leiden müssen. Doch in den Zeiten, in denen es mir finanziell am besten ging, war ich längst nicht so glücklich wie jetzt.
Meine Glücksgefühle hängen auch nicht vom Ort ab. Sie überfallen mich auf unserer Wiese genauso wie in der U-Bahn oder im Supermarkt. Das Glück kommt nicht von draußen, sondern von der Demut. Denn die Demut befreit meine Kreativität auf eine Weise, die ich mir nie vorstellen konnte. Darum sei ihr die siebte Ode gewidmet.

Was Demut ist und wie sie wirkt, habe ich erst diesen Sommer begriffen. Und zwar beim Heu machen. Unsere Wiese wurde gemäht. Das macht ein Bauer aus dem Dorf und es geht ruckzuck, ratzfatz. Nur ein kleines Stück der Wiese, ungefähr ein Achtel, wird vom Bauer nicht gemäht – es liegt auf der anderen Seite eines kleinen Bachlaufs und ist für Trecker und Heuballenmaschine nicht erreichbar. Letztes Jahr haben wir Wochen gebraucht, dieses Stück mit dem Einachser zu mähen, das Heu zusammen zu harken und mit der Schubkarre zu einem großen Komposthaufen zu bringen. Damals fand ich die Arbeit in den ersten Stunden noch sehr nett, aber dann fing sie an, mich zu nerven. Ich sah nur die Stunden, die ich verlor. Wie viel Zeichnungen hätte ich in der Zeit nicht machen können!
Dieses mal war das Stressgefühl schon am Anfang da. Allein schon, weil der Einachser ausgerechnet jetzt kaputt war und das Ersatzteil nicht lieferbar.Ich teilte die kleine Wiese in Gedanken in Abschnitte ein, die wir pro Tag schaffen mussten, wollten wir in zwei Wochen fertig sein. Nach dem Mähen des ersten kleinen Stücks (mit der Sense!) schätzte ich, wieviel Heuhaufen das werden würden. Als die Haufen zusammen geharkt waren, schätzte ich die Anzahl der Schubkarrenfuhren. Noch 26, für jede brauche ich zwei Minuten, das wären…

Aber dann, während der ersten Stunden, vergaß ich plötzlich zu zählen. Ich merkte, wie gut mir das Arbeiten mit der Heugabel tat. Wie schön es war, draußen zu arbeiten. Ich fand einen Rhythmus. Nicht schnell, nicht langsam. Ich sah Sperber und Bussarde, Gimpel und Ölkäfer. Mir fiel auf, wie unterschiedlich die Konsistenz des Heus ist. Näher am Bach und dem kleine Sumpf wachsen Halme mit breiten Blättern, dazwischen Kuckucksblumen und Weidenröschen. Auf den trockeneren Stücken gibt es mehr Klee und Butterblumen. Und über der ganzen Wiese wiegen sich die roten Spitzen des Sauerampfers.

Ich vergaß, mich über den Bauern zu ärgern. Ich vergaß, was ich in derselben Zeit anderes hätte machen können. Ich vergaß Termine und To-Do-Listen. Statt dessen fiel mir auf, was für ein Wunder Trecker sind. Was für ein Wunder wir Menschen sind, dass wir Maschinen erfinden, die uns die Arbeit erleichtern. Vor allem aber: Was für ein Wunder es ist, dass wir auch heute noch ohne Maschinen arbeiten können. Dass wir – wenn wir nur Geduld haben – die Wiese auch mit einer Sense und einer uralten Heugabel mähen können. Ganz ohne Elektrizität oder Abgase. Ganz ohne Lärm oder Uhren. Einfach nur, weil wir Menschen sind und uns die Zeit nehmen. Weil wir unsere Arbeit machen. Nicht schnell, nicht perfekt, nicht großartig. Sondern Heugabel für Heugabel, Wort für Wort, Pinselstrich für Pinselstrich.

Bei diesem Gedanken wusste ich plötzlich, woher mein neues Glück kommt: Ich habe im letzten Jahr die Demut gefunden. Und sie hat mein ganzes Leben bereichert, vor allem aber meine Kreativität. Demut bedeutet, zu erkennen, wie klein ich bin. Wie klein meine Schritte sind, wie wenig Heu ich auf meine Gabel nehmen kann, wie langsam meine Bewegungen sind. Wie viel wendiger ein Eichhörnchen sich bewegt, wie viel effektiver eine Schwalbe ihre Kraft nutzt. Wie wenig die Natur uns braucht. Demut bedeutet, wissen, was ich leisten kann und was nicht. Nach Johannes Hessen ist Demut „die Haltung des aufgeschlossenen Auges, der geöffneten Hand“.

„Das Verlangen des Demütigen ist nämlich ohne Anspruch. Er fordert und beansprucht nichts, sondern nimmt alles als reine Gabe, als unverdientes Geschenk hin. Gerade dadurch aber, dass die Demut nichts beansprucht, empfängt sie alles“. *

Ich bei der Arbeit am Schreibtisch. Text: Demut ist offenen Auges und offenen Herzens vor einem weißen Blatt Papier zu sitzen und nichts von mir zu erwarten (und vertrauen, dass ES kommen wird, was es auch ist).

Genau diese Haltung ist es, die der Kreativität Raum schafft. Kreative Arbeit macht Angst. Angst vor dem Ungewissen, Angst vor ihrer Kraft, die uns mitreißen könnte. Angst vor den Reaktionen unserer Umgebung und Angst vor dem Wilden und Ungestümen, das wir in uns entdecken könnten. Um die Angst zu bewältigen, versuchen wir uns Sicherheiten zu schaffen. Zum Beispiel, indem wir planen, die Richtung bestimmen, unser Ziel festlegen. Wir entwerfen Kapitel oder Leinwände, bereiten Materialien vor, entwickeln theoretische Konzepte, tragen Abgabedaten in unsere Kalender ein. Sehr menschlich das alles. Angst ist anstrengend und all das sind Versuche, sie zu zügeln, damit sie uns nicht von der Arbeit abhält.

Die Demut ist ein anderer Weg, mit der Angst umzugehen. Denn unsere Angst zu scheitern kommt auch den Größenphantasien, die in unserer Kultur mit Kreativen verbunden werden. Wenn wir Kreative als Genies sehen, die Unglaubliches in die Welt setzen können, Riesiges leisten, Überweltliches schaffen können, dann ist es kein Wunder, dass jeder, die sich an ein kreatives Vorhaben wagt, die Knie schlackern müssen. Denn kaum eine fühlt sich überweltlich oder grandios, wenn sie mit dem Füller in der Hand auf dem Sofa sitzt oder den Pinsel über die Leinwand zieht. Kaum eine fühlt sich genial, wenn sie das fertige Manuskript oder Bild zeigt. Viel öfter als Größenphantasien werden wir im Alltag doch von Zweifeln und Unsicherheiten eingeholt. Weil die kreative Arbeit immer eine Suche im Ungewissen ist. Wer schon angekommen ist, welche Spannung soll der noch aufs Papier bringen?

Demut bedeutet nicht blinde Unterwerfung unter irgendwelche Dogmen. Demut bedeutet nicht, uns zu opfern oder zu kasteien. Demut im Sinne von Johannes Hessen bedeutet, sich von Ansprüchen zu befreien. Von sich selbst weder Geniales noch Perfektes zu erwarten, sondern nur eins: dass wir unsere Arbeit machen und dass wir sie mit Inbrunst machen. Noch so ein schönes altmodisches Wort. Laut Duden bedeutet Inbrunst: „starkes, leidenschaftliches, hingebendes Gefühl, mit dem jemand etwas tut, sich zu jemandem, einer Sache hinwendet“.

Wenn wir unser Bild von Kreativen, von Kunst, von unserer eigenen Arbeit und ihren Ergebnissen kleiner machen, können wir es besser ausfüllen. Dann wissen wir, dass von uns nichts erwartet wird, das wir nicht leisten können. Sondern im Gegenteil, die Welt genau auf das wartet, was wir können und schon in uns haben. Und nur – endlich – rauslassen müssen. Demut und Inbrunst. Und natürlich, wie immer Spaß. Denn Spaß kommt genau dann, wenn wir frei von Ansprüchen etwas tun, das wir uns zutrauen, das nicht mit Angst besetzt ist. Habt Spaß und mehret eure Werke!

*Johannes Hessen „Ethik: Grundzüge einer personalistischen Werteethik“, Leiden, Brill 1958)

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Die Angst zu scheitern (und wie sie sich in positive Energie verwandeln lässt).

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Ode 8: An die kreativen Weggefährten