Ode 3: An die Kreative Arbeit. Oder: Adieu Regeln.

Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht, oder ob ich einfach eine extrem verklemmte Person bin: Zu meinem großen Erstaunen stecke ich voller Regeln. Regeln, die mir zum Teil gar nicht bewusst waren, bis ich vor einem Jahr mit meinen Selbstversuchen anfing. Ich dachte bis dann, ich sei freier als andere, weil ich freier erzogen wurde. Schließlich bin ich mitten in der 68er-Szene aufgewachsen, in einen antiautoritären Kinderladen gegangen und hatte den eklektischsten Bücherschrank aller Zeiten. Ja, wir durften im Kinderladen auf die Wände malen und daheim hing die allermodernste Kunst an den Wänden (nur als Poster natürlich). Aber durch die Hintertür haben sich in mir nicht viel andere Regeln eingenistet, als bei Freunden, die ganz traditionelle Erziehungen erlebt haben.

Was das für Regeln sind? Zum Beispiel diese: (Klick die Regeln an, um Hintergrundinfos zu bekommen).

Iss nicht beim Zeichnen!

Du sollst keine Tintenflecken auf deine Zeichnungen machen.

Eine Roman hat soundsoviele Seiten.

Du sollst nicht über die Ränder malen.

Du sollst kein neues Projekt anfangen, bevor du das andere nicht abgeschlossen hast.

Mache Sachen fertig.

Arbeit ist kein Spiel.

Veröffentliche bei einem seriösen Verlag.

Schmiere nicht.

Sei produktiv.

Einige dieser Regeln habe ich meiner Kunstlehrerin aus der Grundschule zu verdanken. Andere habe ich in der intellektuellen Umgebung meiner Kindheit aufgeschnappt. Und wieder andere sind durch Rezensionen, Schulbücher und Vorlesungen in meinem Hirn gelandet. Viele höre ich noch jetzt regelmäßig, auch von Freund:innen und oft wohlgemeint. Aber - wohlgemeint oder nicht - diese Regeln sind enorm schädlich. Sie entstammen anderen Zusammenhängen, in denen sie durchaus ihre Berechtigung haben mögen. Aber in der Welt der Kreativität sind sie die Pest. Die Pest. DIE PEST!!!!!!!

Ich erzähl auch gleich warum. Aber erst ein kurzer Zwischenruf:

Ich sitze am Schreibtisch und werde von eisernen Fesseln und Halterungen dort festgehalten. Ein Schild sagt: 7 Stunden 53 Minuten und erst 217 Wörter!. Aus einem Lautsprecher neben meinem Ohr kommt: "Mehr, schneller, besser".

Wenn ich den Satz „Man muss die Regeln erst beherrschen, bevor man sie brechen kann“ noch einmal höre, dann kotze ich. Und zwar so gewaltig, dass Frankfurt von Bockenheim bis zur EZB unter einem Monte Scherbelino meiner Frustrationen begraben liegt. Ich habe diesen Satz übrigens vor allem von solchen Leuten gehört, die sich selbst noch keine großen kreativen Freiheiten gönnen. Ich vermute, er ist ein Mantra, mit dem sie das von sich fernhalten können, was ihnen am allermeisten Angst macht: ihre eigenen Möglichkeiten. Aber das hier soll eine Ode werden, daher genug geschimpft.


Alles neu

Regeln haben in der Kreativität nichts zu suchen, weil jeder kreative Prozess einzigartig ist. Das und nur das ist doch Kreativität: Wir tun etwas, das noch niemand vor uns getan hat. Stellen uns Fragen, die noch nicht gestellt wurden. Arbeiten an Themen, die so noch nicht bearbeitet wurden. Experimentieren mit neuen Formen und Farben. Mit neuen Plots und Charakteren, neuen Dramen und Szenen, neuen Bewegungen oder Materialien. Und weil jedes kreative Projekt und jeder kreative Prozess einzigartig ist, sind auch die Arbeitsweisen, die zu dir und deinem Prozess passen, einzigartig. Es gibt diese Arbeitsweise noch nicht. Weil es dieses Projekt noch nie gab. Du kannst sie nicht wie ein Installateur oder Herzchirurg von erfahrenen Kollegen übernehmen. Klar haben sie vielleicht Tipps für dich - aber letztendlich musst du selbst herausfinden, wie du am besten arbeiten kannst. Welcher Weg zu deinem einzigartigen Ziel führt.Würden wir etwas machen, das vor uns schon genau so gemacht wurde - klar, dann könnten wir von unseren Vorgängern lernen. Dann hätten Regeln Sinn. Aber dann wären wir auch nicht kreativ. Dann wären wir Handwerker:innen. Kreative Arbeit ist kein Handwerk. Auch wenn sie manchmal Ähnlichkeiten damit aufweisen mag. Denn: Das Ziel der kreativen Arbeit ist ein ganz ANDERES. Eine Handwerker:in weiß, welches Resultat am Ende ihres Arbeitsprozesses auf dem Tisch liegen soll. Als Kreative aber dürfen wir genau das nicht wissen. Natürlich haben wir immer wieder Vorstellungen im Kopf. Aber diese dürfen wir nicht festmachen. Wir müssen uns trauen, mit den Ideen weiter zu jonglieren, sie offen zu halten, müssen uns bewegen und überraschen lassen, damit die Geschichte oder das Kunstwerk sich finden und entfalten kann. Eric Maisel sagt über kreative Arbeit:

„Work is happening underneath, in this place of inner quiet (which is also a wild place), but work is not happening independently of you. You are holding it: giving it space, giving it a container, offering it life“. (Eric Maisel „Fearless Creating“, 1995, Tarcher Putnam)

Den Ideen Raum geben

Die Kreative Arbeit stellt uns auch vor andere Aufgaben. Während der Tischler seinen Stuhl auf der Werkbank entstehen lässt, entsteht ein kreatives Projekt - auch wenn es ein Gemälde oder eine Skulptur ist - immer erst in uns. Wir schaffen in uns Raum für Neues. Dafür müssen wir unsere Gedanken gleichzeitig öffnen und beruhigen. Wir müssen uns vor Ablenkung schützen, ohne uns auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Müssen offen für alle Gedanken sein, die wir für das Weiterentwickeln unserer Idee brauchen, aber gleichzeitig verhindern, dass wir unseren Weg zu früh zementieren. Mit Klischees spielen, aber ihnen nicht blind verfallen. In alle Richtungen denken und doch der einen Spur folgen.Wir geben der Kreativität Raum - so einfach dieser Gedanke klingt, so schwer ist er auszuführen. Nichts scheint in unserer auf Produktivität und Erfolg getrimmten Welt schwerer zu sein. Denn wer sich wirklich auf den kreativen Prozess einlässt, der weiß weder, ob am Ende ein Produkt stehen wird, noch ob es Erfolg haben wird. Darum fühlt sich der Weg oft an wie ein Weg durch den Dschungel, durch Nebel und Gestrüpp, durch Treibsand oder Feuerstürme. Aber das genau ist ja auch, was ihn so unglaublich aufregend macht! Und dann noch dies: Weil wir Kreative sind, können wir kreativ und frei denken. Wir folgen nicht blind irgendwelchen Traditionen. Vor allem, wenn diese sich nicht bewährt haben. Denn es gibt in der Kunst keine gültigen Regeln. Jede angebliche Regel wurde schon mit wunderbarem Resultat gebrochen: Autoren haben Sätze mit "und" angefangen und Romane mit seitenlangen öden Beschreibungen begonnen. Maler haben die Perspektive gebrochen und Farben kombiniert, die in keinem Farbkreis vorkommen. Modemacher haben bewiesen, dass grün und grün sich nicht beißt und Falten, Löcher und schlampige Nähte ihren Reiz haben können. Hella Jongerius hat Porzellan mit Dellen auf den Markt gebracht und Jeff Kohns Kitsch in Kohle verwandelt. Nichts, was dir je jemand über Kunst gesagt hat, stimmt. Nichts, was dir je jemand über Kreativität gesagt hat, stimmt. Auch diese Ode stimmt nur für mich und nur heute. Du wirst dir deine eigene schreiben müssen. Die Regeln für deine kreative Arbeit und dein kreatives Leben kannst du dir nur selber machen.

Oder es bleiben lassen. Denn statt Regeln suche ich jetzt Routinen.

Routinen statt Regeln

Desto besser ich meine kreativen Prozesse kenne, desto besser weiß ich, wie ich in mir jenen kreativen Raum schaffen kann. Ich weiß, dass ich mit mehr Energie arbeite, wenn ich meinen Tag körperlich beginne. Tanzen oder wandern, bei Wind und Wetter raus. Ich mache mir Mut mit Affirmationen, weniger mit Worten, als mit Gebärden, weil ich die besser spüren kann. Ich mache regelmäßig Pausen, aber nicht wenn ich im Flow bin. Ich versuche jeden Tag zu arbeiten, aber noch wichtiger finde ich jeden Tag Spaß zu haben. Ich checke regelmäßig, ob ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht schreibe. Wenn nicht, lege ich eine Pause ein - außer, wenn ich Tränen auf meinen Wangen spüre, dann lege ich mir den Arm um die Schultern und schreibe weiter.Wenn ich Ängste oder Unsicherheiten spüre, wehre ich sie nicht mehr ab. Ich habe gelernt, dass sie mir von mir erzählen: Es sind Fragen an mich. Diesen Fragen kann ich folgen - und finde neue Energien. Diese sind oft anders als erwartet. Dann mag ein Drama sich als Komödie entpuppen oder andersrum. Und spüre ich wie mein ganzer Leib die Worte formt, nicht nur mein Kopf. Diese Energie fragt nicht nach der Zukunft. Redet nicht über über Verlage oder Verkaufszahlen. Sie entspringt meinem hungrigen Herzen und hat nur Gutes mit mir vor. Es ist eine Energie, die sich neugierig und mit Verlangen auf den Weg ins Ungewisse traut. Weil sie keine Angst hat. Sie hat keine Angst, weil es nichts zu verlieren gibt. Nur sehr viel zu gewinnen.

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Ode 2: An die kreative Zeitrechnung.

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Kreativ ist ... die Wäsche heute ungebügelt.