Ode 5: An die Kreative Persönlichkeit: Drei Eigenschaften kreativer Menschen

Worin unterscheiden sich Kreative von anderen Menschen?

Und unterscheidet die kreative Persönlichkeit sich wirklich oder tut sie nur so? Oder tun die anderen nur so, als seien sie nicht genauso verrückt?

Diese Fragen beschäftigen mich schon ziemlich lang und als ich vor ein paar Wochen in Gedanken diese fünfte Ode schon ein bisschen durch meinen Kopf wandern ließ, zog eine lange Liste an Eigenschaften vorbei. Aber desto länger ich sie über meine Synopsen hin- und her balanzieren ließ, desto mehr verschmolzen sie. Jetzt sind es nur noch drei. (Das wäre natürlich ein sehr viel marketingtauglicherer Titel für diesen Post gewesen: "Die drei wichtigsten Eigenschaften kreativer Menschen". Aber eine Ode ist eben eine Ode und keine Facebook-Anzeige).



Kartons in Rumpelkammer. Text: "und oft verkümmert sie über Jahre in der hintersten Rumpelkammer unseres Geistes".

Vielleicht fragst du dich, wen ich eigentlich mit "Kreative" meine. Berühmte Künstler, Nobelpreisträger? Oder dürfen sich auch die dazu zählen, die eigentlich gerne möchten, aber sich noch nicht trauen? Das wirst du selbst entscheiden müssen - ich jedenfalls glaube fest daran, dass alle Menschen kreativ sein können. Viele können aber – durch Erziehung oder andere Faktoren – ihre Kreativität nicht zeigen. Ihr nicht erlauben, sich zu äußern. Sie verkriecht sich dann in den hintersten Winkel unseres Geistes. Zum Glück lässt sich Kreativität aber zu jedem Zeitpunkt wiederbeleben. 

Sie wird nach Jahren des Schattendaseins natürlich nicht gleich mit voller Wucht über dich herfallen. Aber wenn du sie täglich ein wenig hätschelst und pflegst, ihr mit sanfter Stimme ermutigende Worte zu sprichst und ihr versprichst dich für nichts, aber auch gar nichts zu schämen, was sie äußert, dann wird sie bald wieder zu Kräften finden.

Glaub nur nicht, dass sie sich danach wieder mit einem Schattendasein abfinden wird. Das macht aber nichts, denn wer einmal gespürt hat, wie lebendig und glücklich sie macht, wird sie sowieso nicht mehr missen wollen.

Zeichnung: Ich bestaune die kleine Kreativität auf meiner Hand. "Sie hat sich bewegt!"

Okay - das war die Einleitung. Eigentlich geht es hier ja um die drei Eigenschaften der kreativen Persönlichkeit:


1. Kreative haben eigene Fragen

Kreativ fängt früh an und zwar oft so ungefähr mit 9 Jahren. Ohne, dass sie sich dann schon Künstler:in nennen würden oder Worte für ihren Zustand hätten, entdecken nämlich um dieses Alter herum viele Kreative ihr Thema. Oder besser gesagt: Die Fragen, die ihnen von da an das Leben schwer aber spannend machen werden. Nicht, dass den jungen Kreativen das bewusst wäre: Sie wundern sich nur darüber, dass sie andere Interessen als Gleichaltrige haben. Fühlen sich mit ihrer scheinbar altersungemäßen Motivation seltsam und fehl am Platz.

Rückblickend können erwachsene Kreative aber oft die Momente benennen, in denen ihnen die ersten Fragen und Gedanken zu dem Thema kamen, das später ihre kreative Arbeit bestimmt. Jene Frage, die sie zu bestimmten Materialien greifen und sie mit Formen oder Klängen experimentieren lässt und die sie immer weiter treibt auf einer lebenslangen Forschungsreise durch die Kreative Galaxie.

Zwei strahlende Augen funkeln




Wie wichtig die eigenen Fragen sind, wurde mir schon am Ende der Grundschule bewusst, als ich einem Mädchen aus der Nachbarschaft bei den Hausaufgaben helfen sollte. Als ich bei ihr klingelte, war sie alleine zu Hause. Und als sie die Tür öffnete, fingen ihre Augen zu strahlen an. Sie war froh mich zu sehen, und als ich durch die Wohnung lief, begriff ich warum: Die Wohnung war leer. Nicht nur leer an Menschen, auch leer an allem, das hätte inspirieren können: Es gab keine Bilder, keine Bücher, keine Musik. Nichts, woran mein Blick sich hätte aufhalten wollen. Sie lief wie ein junger Hund vorfreudig neben mir her, bis ich sagte, „Dann machen wir jetzt die Hausaufgaben“. Da war das Leuchten in ihren Augen so schnell weg, wie es gekommen war. Und dieses Bild: Wie Augen anfangen zu leuchten oder wieder erlöschen, hat mich seitdem wie ein kleines Wesen im Kopf begleitet. Wenn es auftaucht, kann mein Bewusstsein den Link zu meiner Frage oft noch gar nicht erkennen. Später erkenne ich dann, dass auch das Buch oder Projekt, an dem ich gerade arbeite, Leuchten und Nichtleuchten zum Thema hat.

2. Kreative haben Alternativen

Illustration, Mädchen schneidet sich die Haare ab. Text: "Wenn Mädchen nicht Boxer werden können, dann bin ich halt ein Junge" .

Weil sie von einer inneren Motivation geleitet werden, haben die Normen und Regeln der Umgebung für Kreative nur eine eingeschränkte Bedeutung. „If a man does not keep pace with his companions, perhaps it is because he hears a different drummer“ , schrieb Thoreau in "Walden". Die Umgebung reagiert oft empfindlich, auf jene, die einer anderen Melodie folgen. Aber für die meisten Kreativen ist der Drive, ihren inneren Fragen zu folgen, nicht etwas, das sie nach Belieben abstellen können. Sie erfahren ihn als Notwendigkeit, als etwas, das sie tun müssen und täten sie es nicht, so hätten sie ihrem Leben den Sinn genommen. (Zu dem Thema hab ich “Das kleine Buch vom Kreativen Ersticken” gemacht).

Der kreative Geist ist in der Lage, sich Dinge vorzustellen, die es nicht gibt, und – das ist wichtig – diese ebenso ernst zu nehmen, wie das, was sie im echten Leben mit Händen greifen können. Nichts ist unveränderbar festgeschrieben und wenn man ein paar Striche hinzufügt oder ein paar Worte ändert, lassen sich auch Normen und Regeln ändern.

„Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“, hat Picabia gesagt und das ist für Kreative alltägliche Erfahrung. Sie haben nicht so ein großes Bedürfnis an starren Regeln und Normen. Tatsächlich scheint der Thalamus bei kreativen Menschen seine Aufgabe nicht ganz so gewissenhaft zu erfüllen.

Bei den meisten Menschen funktioniert der Thalamus wie ein Türsteher des Informationsflusses. Er lässt Eindrücke durch, die zu der bisherigen Erfahrung passen. All jenen Informationen hingegen, die nicht "passen" und die die Ordnung im Gehirn durcheinanderbringen könnten, verwehrt der Thalamus den Durchgang

(Viel besser erklärt wird das in diesem Artikel im Deutschen Ärzteblatt).

Zeichnung von einer Türsteherin im Ohr, die von einem Palmenstrand träumt. Text: Ich habe das starke Vermuten, dass die Türsteherin in meinem Ohr genauso verträumt ist, wie ich.

Bei Kreativen scheint nun der Thalamus durchlässiger. Statt mit dem Vorschlaghammer auf alles loszugehen, was das Gehirn in Unordnung versetzen könnte, lässt er "unpassende Eindrücke" passieren. (Aha, denkst du jetzt vielleicht, endlich weiß ich, was mit meinem Hirn los ist: Mein Türsteher schläft!) Kreative verfügen durch diesen ungefilterten Eingang über ein breiteres Spektrum an Wahrnehmungen, Erfahrungen und Ideen. In ihrem Kopf befindet sich sowohl "das Passende" als auch "das Unpassende". Kein Wunder, dass Leute mit einem so ungezügelten Gehirn auch eine größere Ambiguitätstoleranz zeigen. Sie erwarten nicht, dass das Leben eindeutig ist und können Gegensätze aushalten.

Wer mag kann Kreativität also als Abweichung des Gehirns empfinden. Da ich daran glaube, dass das Gehirn plastisch ist und sich entsprechend unseres Gebrauches formt, bin ich anderer Ansicht: Kreative haben den schlappen Türsteher nicht aus Versehen erwischt, sondern ihn sich so erzogen. Aber was hier Huhn oder Ei ist mögen andere untersuchen. Auch bezüglich der Frage, ob der schwache Thalamus oder der von Kreativen zur Durchlässigkeit getrimmte Türsteher dafür verantwortlich ist, dass Kreative in ihrer Persönlichkeit gegensätzliche Persönlichkeitsmerkmale vereinen. Das nämlich hat Mihaly Csikszentmihalyi festgestellt. Kreative Menschen sind introvertiert und extravertiert, ruhig und voller Energie, klug und von kindlicher Naivität... ach lest es doch selbst nach in Csikszentmihalyis wunderbarem Buch "Flow".

Kurz gesagt: Kreative haben viele Leben. Gelebte und vorgestellte. Das macht sie komplex. Sie sind für Menschen, denen Normen und eindeutige Kategorien wichtiger sind, darum oft schwer zu begreifen. „Gestern hast du noch gesagt, dass….“ „Kannst du nicht mal bei einer Sache bleiben?“ (Und wahrscheinlich bleibt der Kreative tatsächlich sogar bei einer Sache - nur ist diese Sache seine ganz persönliche Forschungsreise und ist von außen der rote Faden seiner Suche nicht zu erkennen).

Zwischenfrage: Warum sind manche Menschen kreativer als andere?

Es mag so scheinen, als ob Kreative einfach Glück haben. Oder Pech – je nach Perspektive. Aber daran glaube ich nicht. Ich glaube daran, dass Kreativität nicht nur aus angeborenen Talenten besteht. Man bekommt sie nicht in den Schoß gelegt , sondern muss sie auch wählen. Viele trauen sich das nicht.

Denn der Weg der Kreativität ist ein einsamer Weg: Um der eigenen Frage zu folgen, muss man es aushalten, sich mit etwas zu beschäftigen, das anderen nicht verständlich ist. Das man nie ganz mit ihnen teilen kann. Deshalb ist die dritte Eigenschaft kreativer Menschen: Mut.




3. Kreative haben Mut

Der kreative Weg führt ins Ungewisse. Es kann sein, dass unsere Suche Resultate bringt, die andere begeistern und die uns zu Millionären machen. Es kann aber auch sein, dass andere unsere Frage und Antworten nicht verstehen. Dass wir uns mit etwas beschäftigen, das erst in 200 Jahren für andere wichtig ist und wir wie Van Gogh die materiellen Früchte unserer Arbeit nicht mehr pflücken können.

Wegweiser mit zwei Schildern, die in unterschiedliche Richtungen weisen. Links geht es zur "Sicherheit", nach rechts "ins Ungewisse".

Wenn die Umgebung mit Unverständnis reagiert, geben viele auf. Zu schmerzhaft ist es, immer allein mit der eigenen Begeisterung zu sein. Zu schmerzhaft ist es, wenn um einen herum alle Karrieren vorzeigen, nur man selbst nicht.

Warum schaffen es dann doch einige, weiterzumachen? Ihren ganz persönlichen Fragen zu folgen? Ihre kreative Arbeit genau so zu machen, wie sie ihnen im Herzen rumpelt? '
Weil sie es spüren.
Weil sie bei der Arbeit - nicht immer aber immer öfter - spüren, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Nicht richtig im Sinne von normal oder sicher, sondern richtig auf jene einzigartige Weise, die man im Herzen beben und im ganzen Körper resonieren fühlt. Richtig auf jene Weise, die Howard Thurman als "lebendig" beschrieb:

"Don't ask what the world needs. Ask what makes you come alive, and go do it. Because what the world needs is more people who have come alive."


Und warum bitteschön braucht die Welt Leute, die lebendig sind? Weil diese Lebendigkeit bedeutet, dass wir in Kontakt mit dem sind, was uns ausmacht. Dass wir authentisch sind und authentisch handeln: unverstellt, ehrlich und aus vollem Herzen. Ja, das braucht die Welt.

Noch kurz zurück zu Van Gogh. Manche werden zu Lebzeiten berühmt, andere – ohne es je zu erfahren – nach ihrem Tode. Und manche nie. Am wahrscheinlichsten aber ist jenes Szenario: Dass wir – mit Geduld und Zeit – eine kleine Gruppe Menschen finden werden, die von unserer Arbeit begeistert sind, deren Augen zu leuchten anfangen, wenn sie unseren Bildern, Büchern, Kompositionen, Theaterstücken, Filmen oder Skulpturen (…) begegnen. Und das ist genug. Denn jedes Paar Augen, das wir zum Leuchten bringen, jedes Herz, das wir mit unserer Arbeit berühren, ist der wahre Lohn unserer Arbeit.

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Zeit-Befreiung statt Zeitmanagement

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Ode 6 An das Nichtstun. Oder: Es lebe die Prokrastination!