Ode 6 An das Nichtstun. Oder: Es lebe die Prokrastination!

Während ich über die Antworten auf Ulrike Zechers Blaumacherfragen nachdachte, fiel mir ein, dass ich schon lange über Prokrastination schreiben will - und darüber, dass sie oft missverstanden wird und fälschlich beschuldigt. Darum widme ich meine sechste Ode der wunderbaren Kraft des Nichtstuns. 

Nachdem ich die Bleistifte gespitzt, ein Glas Wasser geholt und das Whiteboard geputzt hatte, wollte ich gerade anfangen zu arbeiten, als mir die kleinen Punkte auf der Palme auffallen. Da musste ich natürlich bei Google nach den Ursachen suchen.

Eine Illustration kann auch eine Prokrastination sein. Eigentlich wollte ich nämlich ein Kapitel schreiben, aber dann musste ich ganz dringend diese Zeichnung zeichnen :-)

Als der Begriff Prokrastination aufkam - vor ungefähr 10 Jahren - da fand ich ihn toll. Weil ich diese Aufschieberei nur zu gut kannte und mich in den Texten über sie wiederfand.  John Kellys großartiges Video schien von mir zu handeln – als hätte er mir an einem durchschnittlichen Arbeitstag über die Schulter geschaut. Am Anfang wurde Prokrastination vor allem als Insiderwitz unter Kreativen diskutiert. Hast du das auch? Wie sind wir doch niedlich! "Die P" war eine der vielen Macken, die Kreative an sich selbst feststellten und über die sie so liebevoll berichteten, wie Eltern über die Streiche ihrer Kleinkinder.

Doch in den Jahren darauf hat sich die Diskussion übers Prokrastinieren verändert. Es wurde nicht mehr als schräge und sympathische Begleiterscheinung gehätschelt. Statt dessen wurde sie zum Problem ernannt: Die böse Prokrastination hindert Kreative an ihrer Arbeit.Der Gedanke klingt erst mal harmlos. Doch dahinter versteckte sich ein anderer Gedankengang. Der nämlich, dass Kreative nur dann arbeiten, wenn sie malen, schreiben oder am Computer sitzen. Und das ist natürlich Unsinn. Die Prokrastination hindert uns nicht an der kreativen Arbeit, sondern ist Teil unserer Arbeit. Sie gehört genauso zum kreativen Prozess wie Momente wunderbarsten Flows oder Schreibsessions, in denen die Kapitel nur so unter den Tasten herausflutschen. Es ist ein Irrtum, dass wir, wenn wir weniger prokrastinieren, mehr produzieren können.

Prokrastination als Symptom
Prokrastionation ist nicht mehr und nicht weniger als ein Symptom dafür, dass wir in unserem kreativen Prozess nicht weiterkommen. Dieses Nicht-Weiterkommen aber kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Mal sind wir uns noch nicht sicher, wie es weitergeht. Mal hindert und sie Angst, vor dem, was da aus uns raus will. Mal ist unser kreativer Organismus noch am Brüten, sind die Ideen noch nicht reif. Sich in solchen Momenten die Prokrastination zu verbieten und wild drauflos zu produzieren, führt selten zu kreativen Fortschritten. Oft entstehen aus so verordneter Produktivität Kapitel, die später wieder aus dem Manuskript gestrichen werden, Bilder, denen die Aussage fehlt oder klischeehafte Plotwendungen. Denn die Prokrastination hindert uns nicht an der kreativen Arbeit - das Hindernis war schon vor ihr da. Sie hindert uns nur daran, trotzdem weiterzumachen und uns mit blinder Produktivität den Weg zur Lösung zu versperren.

Sie hat sich bewegt, ich bin mir ganz sicher.

Sollen wir also weiter Bleistiftspitzen, Kaffee holen und den Blumen beim Wachsen zuschauen? Vielleicht ja. Denn manchmal kommen eben auf den drei Schritten zur Kaffeemaschine die besten Ideen. Aber in vielen Fällen ist der noch bessere Weg, sich einzugestehen, dass man festhängt. Denn Prokrastination ist der Versuch, diese Einsicht erst mal nicht an sich ran zu lassen - zu tun, als ob man am Arbeiten wäre. Nur noch kurz was recherchieren, noch mal ein paar Zahlen nachschlagen, den Schreibtisch aufräumen. Das kann auch mal zum kreativen Durchbruch führen, wahrscheinlicher aber ist der, wenn wir uns das erlauben, was zur Kreativität gehört, wie das Wasser zum Strand, aber in unserer auf Produktivität fixierten Welt ganz und gar verwerflich scheint: nichts tun.

Wenn wir nichts tun - das heißt unsere Gedanken in keine Richtung drängen, sie keinem Zweck unterwerfen und keinen Zielen folgen lassen, dann entsteht Raum für die berühmten Hinterkopfprozesse. Viele der größten kreativen Durchbrüche sind nicht am Schreibtisch oder an der Staffelei entstanden, sondern auf Spaziergängen, beim Fensterputzen oder Duschen. Oder im Schlaf - wer hat das nicht schon erlebt: morgens wach werden und das Licht sehen. Die Lösung für das gestern noch unlösbar scheinende Problem ist über Nacht, wie von Zauberhand, in unserem Kopf erschienen. Nur dass es nicht die Zauberhand war, sondern das Unterbewusste.

Vertrauen und nichts tun
Und vielleicht ist das für die Produktivitätsfanatiker in uns am allerschwierigsten zu fassen: dass Kreativität zu einem großen Teil nicht vom Bewusstsein gesteuert wird. Wie gruselig, wenn große Werke nicht durch harte Arbeit, Logik und scharfen Verstand entstehen! Sondern durch Hingabe an eine Kraft, die sich bis heute weder in Worten noch in Zahlen oder Diagrammen wirklich fassen lässt. Zu dieser Hingabe gehört vor allem Vertrauen. Vertrauen darauf, dass die Kraft, die in uns brennt, uns den Weg weisen wird. Dass wir unseren Intuitionen folgen und genau das tun müssen, was sie uns vorschlägt. Auch wenn das eben bedeutet, gar nichts zu tun und geduldig abzuwarten, bis sich der Prozess in uns entfalten kann. Wenn wir dies akzeptieren, können wir uns auch erlauben, Prokrastinieren als das zu erkennen, was es ist: das Signal zum Aufhören. Statt bleistiftspitzend so zu tun, als ob wir arbeiten, können wir das tun, was unserer Kreativität in den meisten Fällen viel mehr bringt: es uns gut gehen lassen. Etwas Schönes kochen, durch den Wald laufen, ein Puzzle machen, schlafen oder Klavier spielen. Was auch immer unser Hirn zur Ruhe kommen lässt - es ist gut.
Hab Vertrauen. Es kann dauern, aber es wird alles gut.

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Ode 5: An die Kreative Persönlichkeit: Drei Eigenschaften kreativer Menschen

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Die Angst zu scheitern (und wie sie sich in positive Energie verwandeln lässt).