Ode Null: An die Zettelwirtschaft

Selbstbildnis mit Zettelhalter am Kopf

Ich schreibe dies im ICE an einem Zweiersitz mit einem kleinen Ausklapptischchen. Gerade habe ich eine Mappe mit losen Zetteln aus meinem Rucksack geholt - lauter Gedankenfetzen, Notizen, Skizzen, die ich in den letzten Jahren angesammelt habe.
Auf dem Tischchen, das nicht größer als ein A4-Blatt ist, versuche ich Ordnung in meine Notizen zu bringen. Zwischen den Fingern meiner rechten Hand kann ich vier Kategorien festhalten, eine auf dem Schoß und eine im Mund - das reicht nicht. Immer wieder fallen Zettel zu Boden.

Foto: Stapel mit Notizzetteln und Skizzen

Viele Jahre habe ich mir gewünscht, eine Frau zu sein, die ihre Gedankenfetzen ordentlich geoutlined in einem Schreibprogramm festhält. Doch obwohl ich mit dem wunderbarsten aller Schreibprogramme arbeite (Thank you Scrivener <3), spielt sich das Herz meiner Arbeit in Form einer grandiosen Zettelwirtschaft ab. Wenn die Gedanken in Scrivener landen, sind sie gereift und bereit zur Niederschrift. Daran gehen oft Jahre des Sammelns und Sortierens vorab.
Wie viele Mappen habe ich nicht gekauft! Sogar einmal ein Hängemappenteil, das mir obergenial erschien. Doch es nützt alles nichts: Sobald meine Gedanken platt in Mappen verschwinden, kann ich sie nicht mehr sehen und nicht mehr anfassen. Damit verschwinden sie auch aus meinem Kopf. Um meine Gedanken sortieren zu können muss ich sie sehen. Und zwar nicht nacheinander - dann könnte ich sie alphabetisch oder chronologisch in Ordnern abheften - sondern gleichzeitig. Ich muss die - oft Hunderten von Zettelchen - auf einen Blick erfassen, intuitive hin und her schieben und stapeln können. Und obwohl ich drei Schreibtische in meinem Zimmer habe, ist jeder davon zu klein - meine beste Arbeit mache ich auf dem Fußboden oder auf einem großen Sofa. Manchmal auch im ICE.
Früher war mir das peinlich. Inzwischen macht es mir Spaß, die verwunderten Blicke der Mitreisenden zu sehen. Manche sprechen mich an. Und ich hoffe, dass der eine oder andere sich von mir anstecken lässt, sich auf der nächsten Reise traut, der eigenen Arbeitsweise Raum zu geben.

WENN DU DAS WORT "ZETTELWIRTSCHAFT" HÖRST - HAT ES FÜR DICH EINEN POSITIVEN ODER NEGATIVEN BEIKLANG?

Sprechblasen mit Vorwürfen: "Verzettel dich nicht! Halte Ordnung! Sei nicht so ungeduldig! Bla bla bla

Viele Eigenschaften, die zur Kreativität gehören, wie der Pinsel zur Farbe und die Wörter zum Roman, sind negativ besetzt. Schon kleine Kinder lernen, ihre eigene Ordnung zu unterdrücken, sich für ihre Langsamkeit oder ihre Ungeduld zu schämen und ihren Wahrnehmungen zu misstrauen. Zeit für einen kreativen Befreiungsschlag. Wir müssen uns die negativ definierten Eigenschaften zurückerobern. Ihre positiven und wichtigen Aspekte erkennen und neu definieren. Die Zettelwirtschaft könnte zum Beispiel zur "Zettelkunst" erhöht werden. (Obwohl die "Wirtschaft" ja durchaus auch schon sehr professionell klingt). Kreativ ist anders und anders ist cool.
In dieser Serie will ich mich den besonderen Eigenschaften kreativer Menschen widmen und untersuchen, was alles zu ihrer Kreativität gehört. An jede dieser Eigenschaften will ich eine Ode schreiben.

Denn wenn wir uns nicht trauen, so zu arbeiten, wie es zu uns passt, verkümmert nicht nur unsere Kreativität, sondern auch unser Herz. Das Wort "arbeiten" an sich, muss übrigens auch neu definiert werden. Dazu später mehr, vermutlich in Ode 4. Falls ich meine Zettel nicht noch umsortiere.

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Kreative Strategien: 1. Einigeln

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Ode 1: An die kreative Ordnung